Eine Soldatenschule in Bürgstein

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Mario
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Eine Soldatenschule in Bürgstein

Beitrag von Mario »

Eine Soldatenschule in Bürgstein
Der Krieg hat merkwürdige Erscheinungen hervorgerufen. Längst dem schulpflichtigen Alter entwachsene Personen nehmen wieder auf der Schulbank Platz, um ihre Kenntnisse zu erweitern, und scheuen sich auch nicht, mit dem ABC zu beginnen. Männer, die bereits Familienväter waren, die im Donner der Geschütze standen, werden zu aufmerksamen Schülern, um die Zeit, die sie zur Heilung ihrer Wunden brauchen, nutzbringend auszufüllen. Daß dieser Nutzen nicht nur ethisch wertvoll, sondern von ganz erheblicher medizinischer Tragweite ist, ist im Laufe des Krieges zu allgemeiner Anerkennung gelangt, so daß sich in den Kriegsspitälern, namentlich des Hinterlandes, die Einführung obligatorischer Unterrichtsstunden für die kranken und verwundeten Soldaten eingebürgert hat und namentlich Analphabeten in den Grundbegriffen des Schreibens und Lesens ausgebildet werden.
Auch in Bürgstein wurde, und zwar in einer Zeit, wo man an einen solchen obligatorischen Unterricht noch nicht gedacht hat, eine Soldatenschule gegründet, und zwar von unserer, leider nur zu früh aus dem Leben geschiedenen Mirza Klapper, die auch dem Unterrichte allein in der uneigennützigsten Weise oblag, einer umso schwereren Aufgabe, als ihre Schüler fremdsprachigen Nationalitäten angehörten und meist Analphabeten waren.
Die brave Mirza hat sich mir gegenüber in mehreren Briefen über diesen Unterricht ausgesprochen, und ich kann den Nachruf an sie (s. Mitteilungen XXXX, 107, 108) nicht würdiger ergänzen, als daß ich die, auf jenen nicht genug anzuerkennenden Unterricht bezüglich Bruchstücke aus ihren Briefen hier zur weiteren Kenntnis bringe.
Am 28. Dezember 1915 schrieb sie: „ ... Bin alleweil in einer anderen Klasse, bald bei den Kleinen, bald bei den Großen. Und voriges Schuljahr hatte ich mir noch extragroße Schüler angeschafft. Wir hatten in Bürgstein ein Spital mit Leichtverwundeten, darunter einen stattlichen Prozentsatz Analphabeten.: Bosniaken, Mohamedaner, Polen und Rumänen, und denen hab ich die Kunst des Schreibens und Lesens beigebracht, natürlich jedem in seiner Sprache, die ich selbst nicht konnte; aber Sprachführer und Fibel halfen und es ging. Bis sie nach Leipa kommen, spreche ich mit ihnen kroatisch; Sie werden es ja noch nicht vergessen haben. Was für lange, aber Kerle die Bosniaken sind, wissen Sie ja. Die wären einer größeren Bildungsmöglichkeit wert! Meine feldgrauen Schüler schrieben mir schon viele Feldpostkarten – nun aber bleiben dieselben aus, sie stehen gegen Italien. Der Krieg hat die Völker einander näher gebracht – möchten sie einander als Menschen kennen lernen!“
Diese Zeilen, als ich sie las, erschienen mir so interessant und so kriegsgeschichtlich wertvoll für unsere Heimat, daß ich mir von Fräulein Klapper eingehendere Mitteilungen erbat und zugleich die Zustimmung, dieselben in unserer Zeitschrift zur verdienten weiteren Veröffentlichung zu bringen. Der ersteren Bitte willfahrte sie in einem vom 10. Jänner 1916 datierten Briefe, die Zustimmung zur Veröffentlichung aber lehnte sie unter einem mit den Worten: „Ums himmelswillen nur das nicht!“ offenbar aus dem Grunde ab – wie mich der Brief selbst belehrte – weil sie nirgends anstoßen wollte, nachdem sie für ihr bestgemeintes, uneigennütziges Wirken nicht an allen maßgebenden Stellen das erhoffte Verständnis gefunden hatte und so ziemlich auf sich selbst angewiesen blieb; auch befürchtete sie wohl, man würde in Bürgstein glauben, sie hätte sich selbst an uns um Veröffentlichung in den Mitt. Gewendet. Der Brief selbst, insoweit er eben für uns in Betracht kommt, lautet folgendermaßen: ... „Also hier wurden zwei Spitäler errichtet, eines von der Frau Gräfin und eines von der Gemeinde. Im Gemeindespital waren 7 Mann, darunter 4 Analphabeten. Die Ungarn schrieben ihren Angehörigen und erhielten Nachricht. Nun empfanden die armen Leute den Mangel, der ihnen daheim nie fühlbar geworden war. Sie wollten von ihren Kameraden das Schreiben erlernen, aber es ging nicht und sie wurden ausgelacht. Nun ließen sie durch den Bürgermeister uns Lehrer um Unterricht bitten ... Alle ... lehnten ab. Da hätte auch ich kollegial Nein sagen sollen; aber mir stand plötzlich die Zeit meines Ringens um Bildung und Existenz vor Augen, - auch ich hatte hilfreiche Freunde gefunden – sollte ich härter sein, als das Schicksal mit mir gewesen, sollten die armen Leute zu ihren Wunden, auch noch diesen Hieb dazu nehmen? Da sagte ich: Ich wills versuchen! ... Am nächsten Tage ging ich ins Spital, und der Herr Bürgermeister stellte mir meine Schüler vor. Da war ein Rumäne, der aber schon nach einigen Tagen abging, ein Pole und zwei baumlange, aber brave Bosniaken; da wurde mir ein bischen bange, aber die Leute waren so bescheiden und lernfreudig; ein Ungar verstand ein bischen deutsch. In Falkenau hatte ich auch polnische Arbeiterkinder gehabt und so konnte ich mich mit einem Gemisch von Tschechisch und Polnisch verständigen, und endlich hatten sich Alle im Felde so ein Soldaten-Esperanto angeeignet; dazu ein Spitalswörterbuch und Sprachführer. Zuerst versuchte ich’s mit Tafeln und Griffel, die ich von meinen Kindern geborgt hatte, aber die Finger der bosnischen Bauern waren zu groß. So ersuchte ich ... um Schultafel und Lehrmittel ... aber ... . So nahm ich denn ein altes Setzbrett aus meiner Klasse, Packpapier und grobe Zeichenkohle, später Zimmermannsbleistifte, und endlcih landeten wir mit Feder und Tinte.
Die Soldaten aus dem Schloßspital besuchten ihre Kameraden, darunter zwei Mohamedaner, die auch mitlernen wollten; dazu bedurften sie besonderer Erlaubnis. Die Oberin vermittelte und endlich sagte sie mir, die Komtesse sein einverstanden. ... Nun bedurften sie noch der Erlaubnis des Arztes. ... Durch die Nonne ließ er mir sagen, er dulde das Lernen aus persönlicher Rücksicht für mich ... . Da kam der Oberstabsarzt, ein feiner, menschlich denkender Herr, er sah, hörte und hieß es gut. Nun kam auch der Arzt ... , mich zu den Erfolgen zu beglückwünschen. Ich verschaffte mir noch Fibeln dieser Sprachen, und nun lernten wir munter fort. Der Herr Bürgermeister war voll Begeisterung für die Sache, nur konnte er nicht begreifen, das ich kein Getös darüber machen wollte, daß ich es sogar ablehnte, dem Oberstabsarzt und dem Generalmajor vorgestellt zu werden. Dann kamen verwundete Ortsleute, der Raum wurde immer enger, und als ich nach den Osterferien wiederkam, sagte man, die Leute gingen auf Ernteurlaub. So hatte die Reise durch die Buchstaben in 80 Tagen ihr Ende.
Dann als die Sommerfrische begann, wurden die Spitäler in einen Tanzsaal zusammengezogen, und auch da unterrichtete ich, denn ein neuer Transport hatte polnische Analphabeten gebracht. Ich hatte meist mehr Zuschauer als Schüler, sehr angenehm! Es ersetzte vielleicht das Kino. Auch das hatte kurz vor Schulschluß ein jähes Ende. ... Als ich eines Sonntags von Leipa kam, kamen die Leute mir aufgeregt entgegengerannt und überstolpernd in seiner Sprache sagte mir jeder, daß sie morgen früh schon fort müßten. Osman, der achtzehnjährige Türke, der ein halbes Jahr hier gewesen, konnte sich gar nicht fassen: ‚das schöne, wunderschöne Bürgstein; Osman wird sterben!’ Er hatte seiner schweren Dum-Dum-Wunde halber nicht schreiben können, hat aber hübsch deutsch sprechen gelernt. Einige kamen nach Leipa, wo ich sie auch besuchte. Die guten großen Kinder! Sie haben mir öfter geschrieben und nun sind sie wieder im Felde, bis auf Osman und Michael, die zwei allergrößten Kinder. Möge die Heimkehr allen beschieden sein! Der übergroße Dank dieser schlichten guten Menschen ist mehr, als ich erwartet und verdient habe. Auch ich habe meinen Nutzen davon; ich selbst habe dabei gelernt: die Eigenart der verschiedenen Sprachen und wahres Volkstum. Ich selbst hatte, wie Viele, die Kroaten als minderwertige Rasse betrachtet, beschämt muß ich sagen: Was für physisch und psychisch prächtige, bildungsfähige Menschen sind sie! Der Krieg hat die Völker einander näher gebracht, möchten sie einander auch menschlich näher rücken, einander kennen und schätzen lernen!“
In ihrem letzten Briefe, den sie am 30. Dezember 1916 von ihrem Krankenlager an mich schrieb, heißt es noch: „Von meinen Analphabeten ist Mustafa Mechanevic bereits auf dem nördlichen Kriegsschauplatze gefallen; ein Sanitätssoldat fand bei ihm die Bürgsteiner Adresse mit dem Bemerk: ‚Wenn ich schwer verwundet würde oder fallen sollte, bitte Nachricht geben!’ Von den anderen schreiben nur noch zwei. Schade um diese Prachtmenschen!“ - -
Das ist die denkwürdige Geschichte der Bürgsteiner Soldatenschule und ihrer tapferen Lehrerin.

Dr. F. Hantschel


Quelle: Mitteilungen des Nordböhmischen Vereins für Heimatforschung und Wanderpflege (Band 40, Seiten 139 - 142)
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